Von der Legende zur Wissenschaft: Seeungeheuer und ihre realen Vorbilder in der Natur

Seeungeheuer faszinieren Menschen seit Jahrhunderten. Als mythisches Fabelwesen repräsentieren sie oft die Unberechenbarkeit der Meere. Wissenschaftliche Untersuchungen entmystifizieren die Legenden, indem sie Bezüge zu realen Meeresbewohnern und realen Phänomenen herstellen.

Carta Marina
Carta Marina des schwedischen Bischofs Olaus Magnus von 1539. Bild: Public Domain

Seit Jahrhunderten beflügeln Seeungeheuer die Fantasie der Menschheit. In fast allen Kulturen existieren Geschichten von gigantischen Kreaturen, die in den Tiefen der Ozeane lauern. Fabelwesen verkörpern oft unbekannte und womöglich gefährliche Meereslebewesen, doch was steckt hinter den Mythen?

Die moderne Forschung zeigt, dass viele Legenden auf tatsächlichen Meeresbewohnern beruhen oder zumindest von ihnen inspiriert wurden. Historisch gesehen erfüllten Seeungeheuer auch kulturelle Funktionen: Auf alten Seekarten wie der Carta Marina von 1539 dienten sie beispielsweise als Warnung vor gefährlichen, unerforschten Gewässern.

In der Antike symbolisierte das Meer oft das Chaos, was sich in der Darstellung von Kreaturen wie der griechischen Hydra oder der hinduistischen Makara widerspiegelte, die sowohl als Schützer als auch als Bedrohung dargestellt wurden. In afrikanischen Mythen erscheinen Monster wie die Inkanyamba als bösartige Wassergeister.

Riesen der Meere und Meeresströmungen

Offenbar waren es Beobachtungen von Meerestieren, die zu dem Glauben geführt haben, das Meer würde von Ungeheuern bewohnt. Zwar gab es bereits in der Antike einzelne Aufzeichnungen über Wale, beispielsweise bei Aristoteles. Die Vorstellung von Walen als Seeungeheuer hielt sich aber bis in Mittelalter. Erst im 17. Jahrhundert intensivierte sich dann die Auseinandersetzung mit Walen, vor allem aufgrund des zunehmenden Walfangs.

Eine naturwissenschaftliche Beschreibung von Walen als Säugetiere wurde zuerst durch den schwedischen Naturforscher Carl von Linné (1707–1778) in seinem Werk Systema Naturae (1735) vorgenommen.

Ein weiteres klassisches Beispiel ist der legendäre Kraken, der heute weitgehend als riesiger Tintenfisch identifiziert wird. Gigantische Tiere wie Koloss- oder Riesenkalmare sind durchaus real, doch ihre Lebensweise bleibt größtenteils verborgen, was das Rätselhafte dieser Lebewesen noch verstärkt.

Wirbel
Wirbel am norwegischen Moskenstraumen, auch bekannt als Malstrom. Bild: Screenshot Youtube

Starke Strömungen stellten für Seefahrer ebenfalls eine Gefahr dar. Zudem konnte allein der Anblick großer Verwirbelungen zu der Annahme führen, dass sie durch Lebewesen in der Tiefe hervorgerufen wurden. Das berühmteste Beispiel für solche Erscheinungen dürfte der Moskenstraumen – auch bekannt als Malstrom – vor der Küste Norwegens sein. Hier erzeugt ein starker Gezeitenstrom an einer Meerenge sichtbare Wirbel.

Ähnlich verhält es sich mit der griechisch-antiken Charybdis, dem berüchtigten Wirbel aus der Odysee: Starke Strömungen vor dem Bosporus haben hier das Bild eines Schiffe versenkenden Ungetüms in der Tiefe geschaffen.

Buckelwale
Abbildung von Buckelwalen bei der Fallenjagd. Bild: McCarthy, Sebo & Firth, 2023

Die aktuelle Forschung versucht, Seeungeheuer mit natürlichen Phänomenen in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Eine im Marine Mammal Science Journal veröffentlichte Studie aus dem Jahr 2023 untersuchte beispielsweise das markante visuelle Erscheinungsbild von Buckelwalen beim sogenannten Trap Feeding (Fallenfressen). Die Forscher um John McCarthy kamen zu dem Schluss, dass selten zu beobachtende Erscheinungen aus der Tierwelt zur Mystifizierung geführt haben könnten.

Außerdem stellten sie fest, dass im Mittelalter Mythos und Naturforschung offenbar Hand in Hand gingen. So wurden zwar Wale in alten Schriften als Seeungeheuer verunglimpft, dennoch gibt es zahlreiche übereinstimmende Aufzeichnungen in mittelalterlichen Bestiarien.

Auch wenn die furchteinflößenden Fantasiekreaturen tief in den kulturellen und psychologischen Wurzeln der Menschheit verankert sind, stellen Harvard-Forschern zufolge die durch menschliches Handeln verursachten „Seeungeheuer“ eine viel größere Gefahr dar, da sie ganze Ökosysteme destabilisieren und unzählige Arten gefährden. In der aktuellen Ausstellung Sea Monsters: Wonders of Nature and Imagination im Harvard Museum of Natural History wird darauf hingewiesen, dass die realen Meeresbewohner ökologisch von globaler Bedeutung sind.

Buckelwale bei der Gruppenjagd
Aufnahme von Buckelwalen bei der Gruppenjagd. Bild: Wikimedia Commons/Public Domain

Wie die heutige Umweltdebatte zeigt, stammen die größten Bedrohungen für das Meer nicht von mythischen Kreaturen, sondern von den Aktivitäten des Menschen selbst. Plastikverschmutzung, Überfischung und der Klimawandel zerstören die Meeresökosysteme und schaffen neue Herausforderungen für den Erhalt der Umwelt.

Seeungeheuer stellen also nicht nur ein eigenes Kapitel der Seefahrtsgeschichte dar, sondern liefern auch wichtige Erkenntnisse über den menschlichen Umgang mit dem Unbekannten. Sie sind ein Spiegelbild unserer tiefsten Ängste und zugleich eine Erinnerung daran, wie wenig wir über die Tiefsee wissen – auch im Zeitalter moderner Technologien.

Gleichzeitig fordern uns die Geschichten dazu auf, die reale Bedrohung durch menschliche Einflüsse auf die Meere ernst zu nehmen, bevor unsere heutigen „Monster“ das fragile Gleichgewicht der Meeresökosysteme unwiderruflich zerstören.

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Quelle:

McCarthy, J., Sebo, E., & Firth, M. (2023): Parallels for cetacean trap feeding and tread-water feeding in the historical record across two millennia. Marine Mammal Science, 39, 3. https://doi.org/10.1111/mms.13009