Neophobie: Von neugierigen Meisen und vorsichtigen Kranichen – warum manche Vögel mutiger sind als andere

Manche Lebewesen sind scheuer als andere. Forscher haben nun an verschiedenen Vogelarten untersucht, woran das liegen könnte. Besonders Ernährungsweise und Zugverhalten der Tieren scheinen Faktoren zu sein, die das sogenannte neophobe Verhalten beeinflussen.

Ein Sekretär (Sagittarius serpentarius) im Versuch, aufgenommen in der Adlerwarte Berlebeck in Detmold. Der Vogel begutachtet ein neuartiges Objekt (unten links), das ihm zusammen mit Futter präsentiert wurde.
Ein Sekretär (Sagittarius serpentarius) im Versuch, aufgenommen in der Adlerwarte Berlebeck in Detmold. Der Vogel begutachtet ein neuartiges Objekt (unten links), das ihm zusammen mit Futter präsentiert wurde. Bild: HHU / Kai Robert Caspar

Warum picken Spatzen furchtlos vom Frühstückstisch, während Kraniche schon beim leisesten Geräusch Reißaus nehmen? Der Frage, was die Ursache dieser Neophobie ist, sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun auf den Grund gegangen.

Neophobie bezeichnet die Angst vor Neuem (von gr. neo – neu und phobos – Angst).

In einer groß angelegten Verhaltensstudie, die in der Fachzeitschrift PLoS Biology veröffentlicht wurde, hat eine internationale Forschungskooperation unter Beteiligung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) über 130 Vogelarten untersucht, um herauszufinden, warum manche Arten Neues meiden, während andere es neugierig erkunden.

Zwei zentrale Faktoren

Das Ergebnis: Sowohl die Ernährungsweise als auch das Zugverhalten wirken sich auf die Neigung zur Neophobie aus – also der Angst vor Neuem. Das könnte künftig auch für den Naturschutz ein Thema werden, etwa bei der Planung von Auswilderungsprogrammen oder dem Schutz bedrohter Arten.

„Neophobie hat Vor- und Nachteile. Neophobe Reaktionen können ein Individuum vor potenziellen Risiken schützen, aber auch die Möglichkeiten verringern, neue Ressourcen wie unbekannte Nahrungsquellen oder Nistplätze zu nutzen.“

– Dr. Rachael Miller, Anglia Ruskin University und der University of Cambridge, Studienleiterin

Das Projekt ManyBirds, auf dem die Studie basiert, wurde 2021 von Studienleiterin Dr. Rachael Miller von der Anglia Ruskin University und der University of Cambridge sowie von Dr. Megan Lambert von der Veterinärmedizinischen Universität Wien ins Leben gerufen. Am Projekt waren 129 Forschende aus 77 Institutionen weltweit beteiligt.

Übersichtsdiagramm über Neophobie und Verwandtschaftsbeziehungen verschiedener untersuchter Vogelarten.
Übersichtsdiagramm über Neophobie und Verwandtschaftsbeziehungen verschiedener untersuchter Vogelarten. Bild: HHU / Kai Robert Caspar

Insgesamt wurden 1439 Vögel aus 136 Arten in 24 Ländern auf sechs Kontinenten beobachtet, sowohl in freier Wildbahn als auch in Zoos und Laboren. In Deutschland fanden Untersuchungen unter anderem in den Tierparks von Detmold, Krefeld und Wuppertal statt. Dabei standen Arten wie der Sekretär, der Königspinguin und der Karibische Flamingo im Fokus.

Versuch mit Futterstücken

Das Experiment war einfach, aber aufschlussreich: Jeder Vogel erhielt ein bekanntes Futterstück – einmal allein und einmal zusammen mit einem unbekannten Objekt. Das Objekt war neutral gestaltet, an die Größe der jeweiligen Art angepasst und immer gleichfarbig.

„Wir maßen die Zeit, die die Vögel in beiden Szenarien benötigten, um das Futter zu berühren. Den Unterschied interpretierten wir als Maß für die Neophobie. Das Verhalten war reproduzierbar, einzelne Individuen zeigten also konstante Reaktionen, auch nach Wochen.“

– Dr. Kai R. Caspar, Institut für Zellbiologie, HHU Düsseldorf, Leitungsteam von ManyBirds

Die Ergebnisse zeigen ein deutliches Muster. Arten, die sich auf wenige Nahrungsquellen spezialisiert haben – etwa Flamingos –, reagieren besonders vorsichtig auf Neues. Sie erleben in ihrer Umwelt weniger Veränderungen und nehmen Unbekanntes daher schneller als Bedrohung wahr. Dagegen sind Allesfresser wie Stare deutlich risikofreudiger: Ihre breite Ernährung erlaubt ihnen, neue Nahrungsquellen schneller auszuprobieren.

Auch das Zugverhalten beeinflusst die Reaktion auf Neues. Zugvögel wie Kraniche sind regelmäßig mit ungewohnten Umgebungen und Objekten konfrontiert – für sie kann eine gesunde Portion Vorsicht überlebenswichtig sein.

Praktischer Nutzen der Studie

„Neophobie hilft zu beurteilen, wie Arten auf Veränderungen reagieren“, kommentiert Dr. Miller den Zweck der Untersuchung. „Vorsichtigere Arten könnten größere Schwierigkeiten haben, sich an Klimawandel oder Urbanisierung anzupassen.“ Weniger neophobe Arten seien dagegen flexibler und widerstandsfähiger.

„Unsere Ergebnisse sind besonders relevant für Arten, die ihren Lebensraum wechseln oder aus Zuchtprogrammen ausgewildert werden. Wenn wir ihr Verhalten besser verstehen, können wir gezieltere Schutzmaßnahmen entwickeln.“

– Dr. Megan Lambert, Veterinärmedizinische Universität Wien

Für Dr. Caspar ist die Studie zudem ein methodischer Meilenstein: „Bisher konzentrierte sich die Kognitionsforschung vor allem auf wenige Arten wie Haustauben oder Rabenvögel.“ ManyBirds erweitere diesen Blick und ermögliche es, die evolutionäre Entwicklung kognitiver Fähigkeiten in der Vogelwelt umfassender zu verstehen.

Die Studie beweist, dass die Angst vor Neuem ist kein Zufall ist, sondern das Ergebnis von Evolution, Umwelt und Lebensweise.

Quellenhinweis:

Miller, R., Šlipogor, V., Caspar, K. R., Lois-Milevicich, J., Soulsbury, C., Reber, S. A., et al. (2025): A large-scale study across the avian clade identifies ecological drivers of neophobia. PLoS Biology, 23, 10, e3003394.