Muskel-Kontraktur? Gibt’s gar nicht!“ – Schmerz kommt oft aus dem Kopf, sagen Forscher
Viele leiden unter vermeintlich „verhärteten“ Muskeln. Doch jetzt sagen Forscher: Die Ursache liegt oft nicht im Muskel selbst – sondern im Nervensystem. Ein medizinischer Mythos wankt.

Was, wenn das Ziehen im Rücken oder die „verhärtete“ Nackenmuskulatur gar keine echten Muskelprobleme sind?
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass viele dieser Beschwerden weniger mit verkürzten oder blockierten Muskeln zu tun haben – und stattdessen vom Gehirn und Nervensystem ausgehen. Ein scheinbar vertrautes Krankheitsbild wird neu bewertet.
Ein vertrautes Beschwerdebild wird hinterfragt
Die Diagnose „Muskelkontraktur“ gehört seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire der Physiotherapie, Sportmedizin und hausärztlichen Versorgung.
Viele kennen das Gefühl eines „verhärteten“, „verknoteten“ oder „verkrampften“ Muskels, vor allem im Nacken- oder Rückenbereich. Lange wurde dies auf muskuläre Überlastung, Fehlhaltung oder Stress zurückgeführt. Doch aktuelle Forschung stellt dieses Bild zunehmend infrage.
Neurobiologische statt mechanische Ursachen
Eine wichtige Erkenntnis liefert die Arbeit des Schmerzforschers Siegfried Mense (2008). In seiner Übersichtsarbeit beschreibt er, dass Muskelbeschwerden häufig durch eine zentrale Sensibilisierung entstehen – also durch eine gesteigerte Reizverarbeitung im Rückenmark und Gehirn, nicht durch eine lokale Muskelveränderung.
Was zeigen moderne Diagnoseverfahren?
Zudem zeigen moderne Verfahren wie Ultraschall-Scherwellen-Elastographie oder Elektromyografie, dass bei vermeintlichen „Kontrakturen“ keine strukturellen Schäden oder auffällige Muskelaktivitäten nachweisbar sind.
In vielen Fällen ist die gemessene Elastizität des Gewebes normal, ebenso die elektrische Muskelaktivität – selbst bei Personen mit ausgeprägten Beschwerden.
Wenn das Gehirn Schmerzen erzeugt
Neurowissenschaftler wie Arturo Goicoechea und Lorimer Moseley betonen, dass solche Schmerzen oft auf eine Überreaktion des Nervensystems zurückzuführen sind.
Das Gehirn erzeugt das Gefühl von Steifigkeit oder Schmerz, um den Körper zu „schützen“, obwohl keine reale Gefahr besteht.
Dieses Schutzprogramm ist beeinflussbar – durch Aufklärung, Bewegung ohne Angst und veränderte Wahrnehmung.
Ein Begriff auf dem Prüfstand
Kritik erfährt zunehmend auch der Begriff „Kontraktur“ selbst. Er suggeriert eine mechanische Blockade, was Patient:innen in Passivität treiben kann: Sie hoffen, dass jemand „den Knoten löst“, anstatt sich aktiv zu bewegen.
Viele Fachleute empfehlen daher, neutralere Begriffe wie „Muskelschmerz“ oder „Spannungsgefühl“ zu verwenden.

Ein Umdenken in der Schmerztherapie
Natürlich gibt es echte Kontrakturen – etwa nach neurologischen Schädigungen oder bei fibrotischen Erkrankungen.
Doch in der alltäglichen Praxis handelt es sich häufig eher um ein neurobiologisches als um ein mechanisches Problem.
Die Neurowissenschaften fordern uns auf, den Blick über das Muskelgewebe hinaus zu richten. Schmerz ist real – aber nicht immer dort, wo er gefühlt wird. Entscheidend ist, das Nervensystem zu beruhigen und Patient:innen zu befähigen, wieder Vertrauen in ihren Körper zu gewinnen.
Quelle
Mense, S. (2008). Muscle pain: mechanisms and clinical significance. Deutsches Ärzteblatt International, 105(12), 214–219.