Der Nowaja Semlja Effekt - Sonnenaufgang mal anders

Wir schreiben das Jahr 1597. Es ist ein kalter 24ter Januar auf der russischen Doppelinsel Nowaja Semlja im Nordpolarmeer, wo die Polarexpedition der niederländischen Seefahrer Jacob van Heemskerk und Willem Barents notgedrungen überwintern musste.

Sonneaufgang über dem Meer
Sonnenaufgang - die scheinbare 'gestapelte' Sonne bzw. das Scheibenmuster kommt auch durch obere Luftspiegelungen zustande, die wiederum von Schichten mit unterschiedlicher Temperatur verursacht werden

Auf der Suche nach der Nordwestpassage waren die Schiffe im Packeis eingeschlossen worden und so errichtete man auf der nahen Insel rasch aus Treibholz eine Unterkunft. Der Schiffszimmermann Gerrit de Veer ist mit einem Gefährten draußen in der Polarnacht auf der Insel unterwegs, als sie am Horizont die Sonne erblicken. Das dürfte eigentlich ja nicht sein. Es herrscht schließlich noch Polarnacht und in diesen Breiten sollte die Sonne erst in zwei Wochen erscheinen. Aber sie sahen die Sonne mit eigenen Augen, auch wenn sie etwas verzerrt bzw. in Scheiben gestapelt erschien. Doch es war die Sonne.


Nun, waren sie doch nicht dort, wo sie glaubten zu sein? Alle Messungen/Peilungen waren aber eindeutig. Zurück beim Rest der Mannschaft teilten sie ihre Beobachtung. Aber diese wurde direkt angezweifelt, wie auch später in den Niederlanden, wo Gerrit de Veer sein Tagebuch und darin enthalten eine Beschreibung des Phänomens veröffentlichte. Alle Gelehrten waren sich sicher. Der Schiffszimmermann (einer der wenigen Überlebenden der Expedition) irrte, er war in den langen Wochen der Kälte und des Hungers bestimmt einer Halluzination erlegen, denn das war physikalisch gar nicht möglich.

physikalische Erklärung

Nun, eine späte Wiedergutmachung erfuhr Gerrit der Veer dann 1998, also fast genau 400 Jahre später. Denn dann wurde eine Erklärung für seine Sonnensichtung gefunden und die passt genau in die optische Physik.

Bei dem von de Veer beobachten Phänomen handelt es sich nämlich um eine arktische (obere) Luftspiegelung. Wie auch in der übrigen (physikalischen) Welt kommt es dazu, wenn der Brechungsindex der Luft mit der Höhe deutlich stärker abnimmt als normal. Dann werden die Lichtstrahlen stärker als sonst nach unten gebogen und bei einer richtig starken Abnahme kann es dazu kommen, dass diese Biegung sogar stärker als die Krümmung des Erdradius ist. Als Folge wird dann ein Lichtstrahl eines Objekts, das eigentlich hinter dem Horizont liegt und etwas nach oben abgestrahlt, quasi über den Horizont zum Betrachter gebogen. Der Betrachter sieht damit Objekte hinter dem Horizont, die er eigentlich auf direktem Wege unter normalen Bedingungen nicht sehen könnte. Im Falle der Sonne sieht er die Sonne, die in Wirklichkeit weit unter dem Horizont liegt.

superrefraktion
die übermäßige Beugung der Lichtstrahlen sorgt dafür, dass die Sonne über dem Horozont sichtbar wird, wobei sie sich aber in Wirklichkeit unter dem Horizont befindet (Hier vom Verfasser als stark vereinfachtes Schema gezeichnet ;)

Die Voraussetzungen für eine solche übermäßige Beugung ist eine ausgeprägte Temperatur- und Feuchteinversion. Dabei liegt einerseits (anders als sonst üblich) warme Luft über kühlerer Luft und außerdem nimmt die Luftfeuchtigkeit mit der Höhe deutlich ab. Dann ist nämlich die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts in den oberen Schichten schneller als unten und somit beschreibt das Licht eine Kurve.

Auch das Niederschlagsradar sieht 'abgehobene' Dinge

Dieses Phänomen ist nicht im Übrigen nicht nur auf das sichtbare Licht beschränkt. Auch bei sonstigen elektromagnetischen Strahlen kommt es bei geeigneter Verteilung des Brechungsindex zu einer solchen übermäßigen Beugung des Strahls. Beim Niederschlagsradar etwa entstehen so zeitweise Artefakte. Die Radarstrahlen werden so gebogen, dass sie nach einiger Entfernung den Erdboden treffen und von diesem eben Reflexionen verursacht werden. Die Radarsoftware denkt aber, dass die Ausbreitung ‚normal‘ verlaufen würde und verortet diese Reflexionen höher in die Luft, sodass Niederschlag angezeigt wird, wo gar kein Niederschlag ist. Doch dazu in einem anderen Artikel, aber bald mehr.

Hilfe bei der Entdeckung von Island und Grönland durch die Wikinger?

In diesem ist nur noch anzumerken, dass neben der Sonne auch andere Objekte quasi über den Horizont gehoben werden können. So zum Beispiel Küstenlinien, die aufgrund ihrer Entfernung normalerweise unsichtbar sind. Nach einigen wissenschaftlichen Studien zufolge könnte das Phänomen der oberen Luftspiegelung den Wikingern bei ihrer Entdeckung von Island und Grönland geholfen haben, die unter normalen atmosphärischen Bedingungen vom Festland aus nicht sichtbar sind.

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