Gletscher im Wettlauf mit der Zeit: Eismassen geraten mit ihrer Selbstkühlung an die Grenze

Normalerweise sorgen kalte Fallwinde dafür, dass sich Gletscher selbst abkühlen. Durch die sich erwärmende Atmosphäre wird dieses Kühlsystem jedoch empfindlich gestört – und auch die Wasserversorgung von hunderten Millionen Menschen gefährdet.

Kalte Luft strömt an einem warmen Tag nach unten. Tsanteleina-Gletscher, Nordwestitalien.
Kalte Luft strömt an einem warmen Tag nach unten. Tsanteleina-Gletscher, Nordwestitalien. Bild: Thomas Shaw/ISTA

Weltweit kämpfen Gletscher gegen die zunehmende Erderwärmung – und das mit eigenen Mitteln: Durch katabatische Winde, also kalte Luftströme, die von ihren Eismassen hangabwärts wehen, schaffen sie sich ein eigenes Mikroklima und kühlen ihre Umgebung. Doch der natürliche Abwehrmechanismus steht offenbar kurz vor seinem Ende.

Katabatischer Wind ist ein ablandiger Fallwind (von gr. katabatikos – herunterfließend). Berühmte Beispiele sind die Bora an der Adriaküste, der Mistral im Rhone-Tal sowie die Gletscherwinde.

Eine neue Studie des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) zeigt, dass spätestens in den 2030er Jahren die Selbstkühlung der Gletscher ihren Höhepunkt erreichen wird. Danach beschleunigt sich ihr Abschmelzen dramatisch. Die Ergebnisse wurden in Nature Climate Change veröffentlicht.

Derweilen sich die Erde unaufhaltsam erwärmt, scheint die Temperatur an der Oberfläche vieler Gletscher hinterherzuhinken. Vor allem in Hochgebirgsregionen wie dem Himalaya erzeugen die Eismassen starke Kaltluftströme, die ganze Täler abkühlen können.

Selbstkühlung nicht unendlich

Die Winde, erklärt Francesca Pellicciotti, Glaziologin am ISTA, entstehen durch die enormen Dichteunterschiede zwischen kalter Gletscherluft und der wärmeren Umgebung. „Die großen, dichten Kaltluftmassen strömen dann unter dem Einfluss der Schwerkraft die Hänge hinunter – ein Phänomen, das als katabatische Winde bezeichnet wird“, sagt sie.

Doch die Selbstregulierung kann die Gletscher nicht dauerhaft retten. Die Studie zeigt erstmals auf Grundlage globaler Daten, wann der Kühleffekt nachlassen wird.

Je heißer das Klima wird, desto stärker kühlen Gletscher zunächst ihre Umgebung ab. Doch der Effekt wird nicht lange anhalten.

„Vor der Mitte des Jahrhunderts wird es zu einer Trendwende kommen“, sagt Thomas Shaw, Postdoktorand in der Forschungsgruppe von Pellicciotti am ISTA. Danach verlieren die Gletscher ihre Fähigkeit, sich von der Atmosphäre „abzukoppeln“, und die Temperaturen an ihrer Oberfläche steigen rapide an.

Eine Wetterstation wird auf dem Glacier de Corbassière in den Schweizer Alpen errichtet. Thomas Shaw blickt zum Grand Combin hinauf.
Eine Wetterstation wird auf dem Glacier de Corbassière in den Schweizer Alpen errichtet. Thomas Shaw blickt zum Grand Combin hinauf. Bild: Pascal Buri

Die Herausforderung war, überhaupt genügend Daten zu sammeln, um solche Vorgänge auf globaler Ebene abzubilden. Dazu kommt, dass viele der entlegensten Gletscherregionen der Welt, etwa am Mount Everest oder in Alaska, schwer zugänglich sind. Shaw und sein Team kombinierten deshalb mehr als 350 Wetterstationen auf 62 Gletschern weltweit. Die Daten, die über 169 Messkampagnen hinweg gesammelt wurden, erlaubten eine bisher einzigartige Analyse.

Wärmere Atmosphäre sorgt für Gletscherschmelze

Dabei kam heraus, dass bei einem Anstieg der Umgebungstemperatur um ein Grad Celsius sich die Gletscheroberfläche durchschnittlich nur um 0,83 Grad erwärmt – was auf die Entkopplung zwischen Eis und Atmosphäre hindeutet. Diese Abweichung erklärt die derzeitige Abkühlungsleistung. Doch laut der ISTA-Studie wird der Effekt zwischen den 2020er und 2040er Jahren seinen Höhepunkt erreichen, auch Peak Cooling genannt. Danach, so Shaw, „werden sich die erheblich geschwächten Gletscher wieder an die sich stetig erwärmende Atmosphäre ‚ankoppeln‘ – und damit ihr Schicksal besiegeln“.

Gletscher gelten als Wassertürme der Erde: Sie speichern gewaltige Mengen Süßwasser und sichern die Wasserversorgung von hunderten Millionen Menschen. Wenn sie schmelzen, verändern sich ganze Ökosysteme, und auch die Wasserressourcen werden unsicher. Doch die bevorstehende Eisschmelze lasse sich nicht aufhalten, erklären die Forschenden.

„Wir müssen den unvermeidbaren Eisverlust akzeptieren und unsere gesamten Anstrengungen darauf konzentrieren, die weitere Erwärmung des Klimas zu begrenzen.“

– Thomas Shaw, Postdoktorand, ISTA

Anstatt auf kurzfristige technische Lösungen wie das Abdecken von Gletschern oder sogenanntes Cloud Seeding zu setzen, fordern sie langfristige Strategien. „Das ist so, als würde man ein teures Pflaster auf eine Schusswunde kleben“, warnt Shaw. Der Fokus müsse nun auf effektivem Wassermanagement, globaler Kooperation und entschlossener Emissionsreduktion liegen.

Die Zeit der Selbstkühlung der Gletscher läuft also ab. Doch sie verschafft der Menschheit ein kurzes Zeitfenster, um sich auf die Folgen des Schmelzens vorzubereiten und endlich konsequent gegen den Klimawandel vorzugehen. „Jedes Zehntelgrad zählt“, erinnert Shaw.

Quellenhinweis:

Shaw, T. E., Miles, E. S., McCarthy, M., Buri, P., Guyennon, N., Salerno, F., Carturan, L., Brock, B., & Pellicciotti, F. (2025): Mountain Glaciers will Recouple to Atmospheric Warming Over the 21st Century. Nature Climate Change.