Merkur: Könnte der Planet bei einer Streifkollision entstanden sein? Forscher stellen gängige Planetenbildung infrage
Lange dachten Astronomen, dass Merkur bei einem Zusammenstoß mit einem kleineren Himmelskörper entstanden sei. Doch Berechnungen legen nun nahe, dass es sich um etwas anderes gehandelt haben muss.

Der sonnennächste Planet unseres Sonnensystems gibt der Wissenschaft seit Langem Rätsel auf. Mit seiner geringen Größe, die ungefähr dem Erdenmond entspricht, und seiner grau verkraterten Oberfläche wirkt Merkur auf den ersten Blick unscheinbar. Doch ein Blick in sein Inneres offenbart Eigenschaften, die bisher schwer zu erklären waren. Ein internationales Forschungsteam hat nun eine neue Hypothese zur Entstehung des Merkur entwickelt.
Beteiligt an der Untersuchung waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des brasilianischen Observatório Nacional, der Université Paris Cité, der UNESP in Guaratinguetá (Brasilien) und der Universität Tübingen. Die Forschenden entwickelten hochpräzise Computersimulationen, mit denen eine Streifkollision zweier Protoplaneten modelliert wurde. Die neue Theorie wurde jüngst im Fachjournal Nature Astronomy publiziert.
Doch keine frontale Kollision?
Lange galt ein gewaltiger Frontalzusammenstoß mit einem kleineren Himmelskörper als einzige Erklärung für Merkurs ungewöhnliche Zusammensetzung. Solche Ereignisse sind jedoch äußerst selten. Dr. Fernando Roig vom Observatório Nacional und Dr. Patrick Oliveira Franco von der Université Paris Cité konnten nun zeigen, dass eine deutlich häufigere Form der planetaren Kollision zu einem ähnlichen Resultat führen kann: ein schräger Zusammenstoß, eine sogenannte Streifkollision, zweier etwa gleich großer Protoplaneten.
Für die Studie wurden unterschiedliche Kollisionsszenarien mithilfe sogenannter Smoothed Particle Hydrodynamics (SPH), einer speziellen astronomischen Berechnungsmethode, simuliert. Dabei wurden sowohl die Aufprallgeschwindigkeit als auch der Winkel der Kollisionen variiert. Die Forschenden schlussfolgerten, dass ein leicht schräger Aufprall mit bestimmter Geschwindigkeit ausreicht, um den Großteil des äußeren Silikatmantels abzutrennen. Zurückbleibt ein metallreicher Planet, kompakt, mit großem Kern und sehr dünner Kruste – Eigenschaften, wie sie auch Merkur aufweist.
– Patrick Oliveira Franco, Hauptautor der Studie
Das Team der Universität Tübingen war maßgeblich beteiligt, indem es das spezielle Simulationsprogramm entwarf, das bei der Analyse der Streifkollisionen verwendet wurde. In der Abteilung Computational Physics am Institut für Astronomie und Astrophysik entwickelten Dr. Christoph Schäfer und Postdoc Christoph Burger eine Software, die sich die Rechenleistung moderner Grafikkarten zunutze macht.

Zur Berechnung nutzt das Computerprogramm spezielle Graphikkarten. „Moderne High-Performance Computing-Architekturen wie wir sie hier in Tübingen für unsere Forschung zur Verfügung haben, machen die Entwicklung und Verwendung unseres Programmcodes erst möglich“, erklärt Dr. Christoph Schäfer von der Abteilung Computational Physics am Institut für Astronomie und Astrophysik. Simulationen, die vorher Monate in Anspruch genommen hatten, seien so in wenigen Tagen möglich.
Ein weiteres Entstehungsszenarium
Durch die gesteigerte Rechenleistung konnten die Forschenden zahlreiche Parameterkombinationen simulieren. So ließ sich nicht nur ein mögliches Szenario rekonstruieren, sondern auch dessen Plausibilität im Rahmen der bekannten physikalischen Gesetze bestätigen.
Die Studie erweitert die Entstehungsszenarien für Merkur um eine zusätzliche Möglichkeit und stellt damit die lange dominierende Hypothese vom einmaligen Frontalzusammenstoß infrage. Denn Streifkollisionen zwischen Protoplaneten ähnlicher Größe gelten als deutlich wahrscheinlicher, sowohl in numerischen Simulationen als auch im Rahmen planetarer Entwicklungsprozesse.
Der kleinste Planet des Sonnensystems könnte also aus einem kosmischen Streifschuss hervorgegangen sein, ein Ereignis, das in der Frühphase des Sonnensystems möglicherweise häufiger vorkam als bisher angenommen.
Quellenhinweis:
Franco, P., Roig, F., Winter, O. C. et al. (2025): Formation of Mercury by a grazing giant collision involving similar-mass bodies. Nature Astronomy.