Tödliche Gewalt unter Schimpansen ist evolutionär: Sie erweitern damit ihr Territorium und ein Fortpflanzungsvorteil.
Neue Forschung zeigt: Schimpansen töten nicht zufällig. Tödliche Gewalt dient der Gebietserweiterung – und erhöht Fruchtbarkeit und Überlebenschancen des Nachwuchses. Ein Blick auf ein brisantes Verhalten.

Dass Schimpansen töten, ist seit langem bekannt – und seit Jahrzehnten umstritten. Ist es ein natürlicher Bestandteil ihrer Evolution oder ein durch menschliche Störungen ausgelöstes Verhalten?
Eine neue Studie von Forschenden der Universitäten Yale, Michigan und UCLA liefert nun Daten, die diese Debatte neu beleben: Gewalt gegen benachbarte Gruppen kann Schimpansen einen messbaren evolutionären Vorteil verschaffen.
Ein Jahrzehnt der Gewalt – und seine Folgen
Im Kibale-Nationalpark in Uganda beobachteten Forscherinnen und Forscher über zehn Jahre hinweg die Ngogo-Schimpansengruppe, eine der größten bekannten Gemeinschaften.
Zwischen 1998 und 2008 töteten Männchen dieser Gruppe 21 Mitglieder benachbarter Gruppen.
Nach der Dezimierung der Nachbargruppen erweiterten die Ngogo-Schimpansen 2009 ihr Territorium um 6,4 Quadratkilometer – eine Zunahme um 22 Prozent.
Derartige Ausdehnungen sind bei Primaten selten dokumentiert. Doch die Langzeitdaten zeigen deutlich: Der Gewinn an Land und Ressourcen blieb nicht folgenlos.
Mehr Nahrung, mehr Nachwuchs
Die Forschenden verglichen Fruchtbarkeit und Nachwuchssterblichkeit der Schimpansen in den Jahren vor und nach der Gebietserweiterung. Das Ergebnis fällt eindeutig aus:
Nach der Expansion brachten die Weibchen mehr als doppelt so viele Jungtiere zur Welt wie zuvor.
Statistische Modelle auf Basis der Bayes’schen Wahrscheinlichkeit – Verfahren, die vorhandenes Wissen mit neuen Daten verknüpfen, um realistische Wahrscheinlichkeiten zu berechnen – zeigen, dass die Chance auf eine Geburt sogar um das 2,3- bis 2,7-Fache anstieg.
Gleichzeitig sank die Sterblichkeit der Jungtiere drastisch. Starben vorher noch rund 41 Prozent der Schimpansenbabys vor ihrem dritten Geburtstag, waren es anschließend nur noch acht Prozent – ein fast sechsmal geringeres Risiko.
Warum Gewalt Familien wachsen lässt
Die Erklärung liegt im Zugang zu mehr und besserer Nahrung. Schimpansen sind fruchtfressende Generalisten, das heißt, sie ernähren sich vor allem von Früchten, können aber bei Bedarf auch Blätter, Samen oder Insekten fressen. Zusätzliche Ressourcen verbessern insbesondere den energetischen Zustand der Weibchen – ein entscheidender Faktor für ihre Fruchtbarkeit. Weniger Konkurrenz innerhalb der eigenen Gruppe verstärkt diesen Effekt.
Zugleich sinkt das Risiko von Infanticid – also dem Töten von Nachkommen – durch Mitglieder konkurrierender Gruppen, wenn deren Stärke zuvor durch tödliche Angriffe reduziert wurde.
Gewalt wirkt hier also doppelt: Sie schwächt die Gegner und schützt den eigenen Nachwuchs vor Infanticid.
Auch für die Männchen hat das Konsequenzen. Da bei Ngogo alle Jungtiere von Gruppenmännchen gezeugt werden, profitieren auch sie indirekt von der besseren Reproduktion der Weibchen.
Eine alte Debatte neu entfacht
Die Frage, ob tödliche Aggression bei Schimpansen ein evolvierter Bestandteil ihres Sozialverhaltens ist oder eine Folge menschlicher Einflüsse, sorgt seit Jahren für Kontroversen.
Befürworter der „natürlichen Aggressionsthese“ argumentieren, dass Schimpansen in ungestörten Habitaten regelmäßig töten.
Kritiker verweisen darauf, dass viele Populationen in stark fragmentierten Landschaften leben und Stressfaktoren erhöht sein könnten.
Der Fall Ngogo ist in dieser Debatte zentral. Das Gebiet gilt als vergleichsweise ungestört, ohne angrenzende menschliche Siedlungen. Die nun veröffentlichten Daten zeigen: Tödliche Aggression wird nicht nur praktiziert – sie bringt messbare Fitnessvorteile.

Was bedeutet das für uns Menschen?
Ob die Mechanismen, die bei Schimpansen wirken, auch eine Rolle in der frühen Menschheitsgeschichte spielten, bleibt offen. Die Forschenden betonen, dass direkte Vergleiche mit Vorsicht zu genießen sind. Doch die neue Studie zeigt: Gewalt kann in bestimmten ökologischen und sozialen Kontexten ein adaptiver Bestandteil des Gruppenerfolgs sein.
Quelle
Wood, B. M., Watts, D. P., Langergraber, K. E., & Mitani, J. C. (2025). Female fertility and infant survivorship increase following lethal intergroup aggression and territorial expansion in wild chimpanzees. PNAS, 122(47)