Smartphones als Erdbebensensoren: Werden Bürgerdaten künftig die Katastrophenvorhersage ergänzen?
Private Smartphones könnten künftig die Erdbebenvorhersage verbessern: Forschende haben eine App entwickelt, die Erdbebenkarten anhand von Ortsdaten erstellt. Warnungen könnten dadurch 30 Sekunden früher erfolgen – wertvolle Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.

Tausende Smartphones in unseren Taschen könnten künftig Leben retten. Die eingebauten Beschleunigungsmesser, die eigentlich für Spiele, Fitness-Tracking oder Bildschirmrotation gedacht sind, können ebenso Daten für die Erdbebenforschung bereitstellen. Das zeigt eine neue Studie. Aus den Messwerten lassen sich etwa hochauflösende Karten erstellen, die anzeigen, wie stark der Boden lokal erschüttert wird.
Hinter der bahnbrechenden Erfindung stehen Forschende der Universität Bergamo, des GFZ Helmholtz-Zentrums für Geoforschung in Potsdam und des European-Mediterranean Seismological Centre in Frankreich. Sie nutzten erstmals die Daten tausender Smartphone-Sensoren, um den sogenannten Standort-Effekt – also den Einfluss lokaler Bodenbedingungen auf Erdbebenwellen – genau zu kartieren. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal Nature Communications veröffentlicht.
Erdbeben verstehen – mithilfe der Bevölkerung
Die Intensität eines Erdbebens hängt nicht allein von seiner Stärke oder Tiefe ab. Entscheidend ist auch, wie der Untergrund beschaffen ist: lockerer Boden kann Erschütterungen erheblich verstärken, während fester Fels sie dämpft. Behörden und Stadtplaner benötigen solche Informationen, um Risiken bewerten und Katastrophenschutzpläne optimieren zu können. Doch bisher war die Messdichte klassischer seismischer Stationen dafür zu gering.
Hier setzt das Earthquake Network (EQN) an, eine Bürgerwissenschaftsinitiative, die Finazzi bereits 2013 ins Leben gerufen hat. Mehr als 20 Millionen Menschen weltweit haben die App installiert. Wenn ein Erdbeben auftritt, registrieren ihre Smartphones die Vibrationen und senden die Daten in Echtzeit an zentrale Server. So entstehen Frühwarnungen, die Anwohnern bis zu 30 Sekunden Zeit geben können, Schutz zu suchen.
Vom Frühwarnsystem zur Präzisionskarte
Die Forscher wollten nun wissen, ob die Smartphone-Daten über die reine Alarmierung hinaus nutzbar sind, etwa zur Kartierung lokaler Erschütterungsmuster. Ein Problem dabei ist, dass sich die Sensoren in Smartphones von professionellen Messinstrumenten unterscheiden. Ihre Daten sind verrauscht, weil sie von Gebäudevibrationen, der Lage des Geräts oder seiner Befestigung beeinflusst werden.

Doch mit statistischen Modellen konnte das Team solche Störfaktoren herausrechnen. Dabei werden Smartphone-Messwerte mit Aufzeichnungen seismischer Stationen verknüpft, wodurch sich die zugrunde liegenden Verstärkungsmuster zuverlässig bestimmen lassen. Ergebnis ist eine hochauflösende Karte, die zeigt, wie stark sich der Boden an verschiedenen Orten bewegt.
„Das EQN-Smartphone-Netzwerk ist sehr dicht und deckt Bereiche der roten Zone ab, in denen keine Stationen installiert sind“, erklärt Francesco Finazzi. „Dadurch kann die Variabilität der Bodenerschütterungen mit einer höheren räumlichen Auflösung über die gesamte Zone erfasst werden.“
Testgebiet Campi Flegrei: 500.000 Menschen in der Gefahrenzone
Als Modellregion diente die hochgefährdete Vulkanlandschaft Campi Flegrei nahe Neapel. Dort leben rund eine halbe Million Menschen in einem Gebiet, das immer wieder von seismischer Aktivität betroffen ist. Zwischen April und Juni 2024 kam es dort zu einer Serie kleinerer Erdbeben, eine ideale Voraussetzung für die Feldstudie.
Während klassische seismische Netze in der Region nur 29 Stationen umfassen, konnten aus der sogenannten roten Zone bis zu 9000 Bürger und Bürgerinnen über ihre Smartphones die notwendigen Daten liefern. Aus der Datenflut entstand die erste detaillierte Verstärkungskarte des Gebiets, laut der sich die Bodenbewegungen innerhalb weniger Kilometer drastisch unterscheiden: Im Osten wird die Schwingung um das Zwei- bis Vierfache abgeschwächt, im Südwesten bis zu dreimal verstärkt.
Hilfe für Einsatzkräfte
Die neuen Karten können im Ernstfall über Leben und Tod entscheiden. Kombiniert mit aktuellen Messdaten eines Erdbebens lassen sich sogenannte ShakeMaps erstellen, das sind Karten, die in Echtzeit anzeigen, wo die Erschütterungen am stärksten sind. Mithilfe dieser Informationen gelangen Rettungskräfte am schnellsten dorthin, wo sie am dringendsten benötigt werden.
– Prof. Dr. Fabrice Cotton, Deutsches GeoForschungsZentrum (GFZ), Potsdam
Die Vision ist klar: Ein globales, digitales Erdbebennetzwerk, getragen von Millionen Smartphones, das vor Erdbeben warnen und sie zugleich verstehen kann. Die Bevölkerung nimmt damit aktiv an der Gefahrenforschung teil und trägt dazu bei, Städte sicherer zu machen.
Quellenhinweis:
Finazzi, F., Cotton, F., & Bossu, R. (2025): Citizens’ smartphones unravel earthquake shaking in urban areas. Nature Communications, 16, 9527.