Kronenschüchternheit: Darum sind Bäume sozial und machen anderen Platz

Wenn man im Wald in die Baumkronen blickt, kann man sehen, dass die Bäume gleichmäßigen Abstand zueinander halten. Noch ist sich die Wissenschaft uneins, warum sie das tun.

Bäume halten im Wald konstanten Abstand zueinander – aber warum?
Bäume halten im Wald konstanten Abstand zueinander – aber warum? Bild: lefteye81/Pixabay

In vielen Wäldern dieser Welt kann man beim Blick nach oben ein erstaunliches Muster beobachten: Die Baumkronen berühren einander nicht, sondern bilden regelrechte Risse oder Kanäle im Kronendach. Das Phänomen wird als Kronenschüchternheit bezeichnet.

Kronenschüchternheit (englisch crown shyness) wird bereits seit den 1920er Jahren beschrieben. Der zugrundeliegende Mechanismus ist jedoch immer noch nicht vollständig geklärt.

Die Kronenschüchternheit ist besonders auffällig bei Bäumen gleicher oder ähnlicher Art, kommt aber auch zwischen unterschiedlichen Arten vor. Die Lücken entstehen, weil die Spitzen benachbarter Äste scheinbar bewusst einander ausweichen: Sie wachsen nicht ineinander, sondern bleiben auf Abstand.

Mehrere Ursachen möglich

Zur Ursache hat die Forschung verschiedene Theorien aufgestellt. Eine davon ist Abrieb durch Wind: Insbesondere in windanfälligen Wäldern reiben sich die Spitzen der Äste durch das Schwanken bei Wind gegenseitig ab. Der mechanische Kontakt führt zum Abbrechen von Zweigspitzen und einer gegenseitigen Ausdünnung der Kronen.

Als Ursachen für die Kronenschüchternheit werden Windabrieb, Licht-Signalwirkungen, Schutz vor Schädlingen oder chemische Kommunikation diskutiert.
Als Ursachen für die Kronenschüchternheit werden Windabrieb, Licht-Signalwirkungen, Schutz vor Schädlingen oder chemische Kommunikation diskutiert. Bild: MabelAmber/Pixabay

Eine zweite prominente Theorie geht davon aus, dass Äste das Vorhandensein naher Nachbarn über subtile Lichtveränderungen wahrnehmen. Wenn der Anteil an tiefrotem Licht im Vergleich zu rotem Licht zunimmt (was durch Schattierung durch Nachbarbäume passiert), könnten Pflanzen das Wachstum in diese Richtung hemmen. Auf die Weise könnten Bäume verhindern, dass ihre Kronen überlappen und sich gegenseitig beschatten.

Tiefrotes Licht (Far Red Light) befindet sich am Ende des sichtbaren Lichtspektrums, noch hinter dem roten und vor dem infrarotem Licht. Seine Wellenlänge liegt zwischen 710 nm und 850 nm. Bei Pflanzen reduziert tiefrotes Licht das Chlorophyll.

Ein dritter Erklärungsansatz vermutet, dass durch die Lücken zwischen den Baumkronen die Ausbreitung von Schädlingen, etwa blattfressenden Insekten oder Krankheitserregern, erschwert wird. Kronenschüchternheit könnte eine evolutionäre Strategie sein, um die Baumgesundheit zu fördern.

Manche Forschende schlagen auch vor, dass Bäume chemisch miteinander kommunizieren und ihr Wachstum hemmen, wenn sich ihre Kronen zu nahe kommen – das wird als Allelopathie bezeichnet.

Wissenschaftliche Verfahren

Neuere Studien verwenden moderne Technologien wie terrestrisches Laserscanning (LiDAR), um die Kronenschüchternheit dreidimensional zu erfassen und zu quantifizieren. Wegweisend in diesem Zusammenhang war eine Studie von van der Zee, Lau und Shenkin (2021), in der 14 Bäume mit Laser gescannt wurden.

Extrembeispiel der Kronenschüchternheit: Kronendach von Dryobalanops aromatica im Forest Research Center, Kuala Lumpur.
Extrembeispiel der Kronenschüchternheit: Kronendach von Dryobalanops aromatica im Forest Research Center, Kuala Lumpur. Bild: Wikimedia Commons/Patrice78500/Public Domain

Die Forschenden führten ein Komplementaritätsmaß ein, das beschreibt, wie stark die Kronoberflächen benachbarter Bäume ineinanderpassen. Die Experten fanden heraus, dass schlanke Bäume tendenziell eine höhere Oberflächenkomplementarität aufweisen.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Bäume ihre Kronenform gezielt an die ihrer Nachbarn anpassen, möglicherweise als Folge physikalischer Berührungen.

Die Lücken im Kronendach könnten verschiedene ökologische Funktionen erfüllen. Möglich wäre, dass der freie Raum den Lichteinfall auf dem Waldboden verbessert und damit das Wachstum krautiger Unterwuchsarten unterstützt. Ebenfalls diskutiert wird, ob dadurch die Verbreitung von Schädlingen verlangsamt und damit die Gesundheit der Bäume gefördert wird. Möglich wäre auch, dass der mechanische Schaden durch Wind reduziert wird, da Zweige seltener kollidieren.

Offene Fragen

Trotz dieser Fortschritte bleibt Kronenschüchternheit ein komplexes Phänomen. Nicht alle Studien bestätigen alle Hypothesen gleich stark. Zum Beispiel berichtete der Biologe Alan Rebertus, dass er in windgeschützten Nebelwäldern kaum Unterschiede im Kronenverhalten sah – was gegen die Annahme mit dem Windabrieb spricht.

Die 3D-Methoden, wie LiDAR, eröffnen jedoch neue Wege, die Kronenschüchternheit systematisch zu vermessen und zu verstehen. Die Studie von van der Zee et al. ist hier ein Musterbeispiel, aber es sind weitere Untersuchungen mit größeren Stichproben nötig, um die Zusammenhänge zu verallgemeinern.

Kronenschüchternheit ist biologisch relevant und ökologisch bedeutend. Die Forschung zeigt, dass mechanische Einflüsse wie Wind, aber auch fein abgestimmte Licht- und Nachbarschaftssignale eine Rolle spielen können. Die Wissenschaft erweitert also unser Verständnis dahingehend, wie der sonderbare Baumwuchs zustande kommt.

Quellenhinweis:

Environmental Literacy Council (2025): Is crown shyness real?

Van der Zee, J., Lau, A., & Shenkin, A. (2021): Understanding crown shyness from a 3-D perspective. Annals of Botany, 128, 6, 725–736.

National Geographic (2020): Some trees may 'social distance' to avoid disease.