Fehlende baryonische Materie im Universum entdeckt? Forscher finden Hinweise auf ausgedehnte Gashüllen um Galaxien

Mehr als die Hälfte der normalen Materie, die beim Urknall vor 13,6 Milliarden Jahren entstanden ist, konnte bislang nicht nachgewiesen werden, weder in Sternen, noch in interstellaren Gas- oder Staubwolken. Neue Messungen scheinen die fehlende Materie nun jedoch in diffusem und unsichtbarem ionisiertem Wasserstoffgas zu belegen.

Künstlerische Darstellung des Halos aus heißem Wasserstoffgas
Künstlerische Darstellung des Halos aus heißem Wasserstoffgas, der die Milchstraße (Mitte) und zwei Satellitengalaxien, die Große und die Kleine Magellansche Wolke, umgibt. Bild: NASA/CXC/M. Weiss/Ohio State/A. Gupta et al.

Fünfzehn Prozent der Materie im Universums sind keine dunkle Materie. Dennoch war bisher ungeklärt, wo sich die Hälfte dieser 15 Prozent überhaupt aufhalten soll. Diese fehlende baryonische Materie hat die Forschung lange Zeit vor Rätsel gestellt. Neue Messungen legen nun nahe, dass ein Großteil der fehlenden Masse in Form von extrem diffusem, ionisiertem Wasserstoffgas vorliegt, das Galaxien als großräumiger Halo umgibt.

Als baryonische Materie wird in der Astronomie die „normale“ Materie bezeichnet – in Abgrenzung zur dunklen Materie, die auch nicht-baryonische Materie genannt wird. Im beobachtbaren Universum umfasst die baryonische Materie Sterne, Planeten, schwarze Löcher und interstellares Gas und wird auf eine Gesamtmasse von 1,5x10^53 kg geschätzt.

Die bei Physical Review Letters eingereichte Studie basiert auf einer Analyse von Bilddaten von rund sieben Millionen Galaxien, kombiniert mit hochpräzisen Messungen der kosmischen Mikrowellenhintergrundstrahlung. Die Forscher konnten kleinste Temperaturveränderungen der Mikrowellenhintergrundstrahlung feststellen, die durch die Streuung an freien Elektronen im ionisierten Gas verursacht werden. Die Streuung erlaubt es, auf das Vorhandensein und die Verteilung des Gases zu schließen.

Unisichtbares Gas sichtbar gemacht

„Wir glauben, dass wir das gesamte fehlende Gas wiederfinden, wenn wir uns weiter von der Galaxie entfernen“, erklärt Boryana Hadzhiyska, Miller-Postdoktorandin an der University of California, Berkeley, und Erstautorin der Studie. „Um genauer zu sein, müssen wir eine sorgfältigere Analyse mit Simulationen durchführen.“

Das Team bestand aus 75 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von internationalen Forschungseinrichtungen, die mit Daten des Dark Energy Spectroscopic Instrument (DESI) in Arizona, USA, sowie des mittlerweile abgeschalteten Atacama Cosmology Telescope (ACT) in Chile arbeiteten. Die Daten wurden kombiniert und in einem nächsten Schritt gestapelt. Dabei wurden Millionen Galaxienbilder überlagert, um das extrem schwache Signal des ionisierten Gases sichtbar zu machen.

Galaktische Rückkopplung reicht fünfmal weiter

„Die Messungen stimmen auf jeden Fall mit der Entdeckung des gesamten Gases überein“, erklärt Co-Autor Simone Ferraro, leitender Wissenschaftler am Lawrence Berkeley National Laboratory. Bereits frühere Analysen von Ferraro und Kollegen hatten erste Hinweise auf ausgedehnte Gasstrukturen geliefert.

Die Ergebnisse verändern unser Verständnis der galaktischen Rückkopplungsmechanismen, die beschreiben, wie zentrale supermassive Schwarze Löcher in Galaxien mit dem umgebenden interstellaren Medium zusammenhängen.

Die Studie legt nahe, dass die galaktische Rückkopplung wesentlich weiter reicht als bislang angenommen, nämlich etwa fünfmal weiter, als von konventionellen Modellen vorhergesagt. – „Ein Problem, das wir nicht verstehen, ist das der AGNs, und eine der Hypothesen ist, dass sie sich gelegentlich ein- und ausschalten, in einem sogenannten Arbeitszyklus“, sagt Hadzhiyska. Aktive Galaxienkerne (AGN) stoßen in solchen Phasen große Mengen an Gas aus, was die Bildung neuer Sterne beeinflusst und das Gleichgewicht der Galaxie verändert.

Weitere Auswertungen zeigten, dass das Gas nicht gleichmäßig um die Galaxien verteilt ist, sondern den großräumigen Strukturen des Kosmos, den sogenannten Filamenten, folgt. Das entspricht zwar aktuellen kosmologischen Strukturmodellen, muss jedoch in präzisen Simulationen überprüft werden. Erste Theorien, die stärkere Rückkopplungen berücksichtigen, bestätigen bereits aktuelle Beobachtungsdaten.

Das Auffinden der fehlenden baryonischen Materie ist auch für die großskalige Kosmologie von Bedeutung. Das Fehlen dieser Masse hatte nämlich bislang die präzise Interpretation kosmologischer Durchmusterungen erschwert.

„Zu wissen, wo sich das Gas befindet, ist zu einem der größten Hindernisse bei dem Versuch geworden, aus aktuellen und zukünftigen Durchmusterungen kosmologische Erkenntnisse zu gewinnen“, so Ferraro. Die genaue Lokalisierung des Gases könnte helfen, bestehende Diskrepanzen in kosmologischen Modellen zu reduzieren, insbesondere in Bezug auf die Annahme, dass baryonisches Gas stets der Verteilung der dunklen Materie folgt.

Zudem kann die kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung zeigen, wie sich das Universum auf großräumiger Skala entwickelt. Entsprechende Untersuchungen könnten künftig genutzt werden, um fundamentale physikalische Prozesse im frühen Universum zu testen, darunter auch Hypothesen zur Schwerkraft und zur Allgemeinen Relativitätstheorie.

Quellenhinweis:

B. Hadzhiyska, S. Ferraro, B. Ried Guachalla et al. (2025): Evidence for large baryonic feedback at low and intermediate redshifts from kinematic Sunyaev-Zel'dovich observations with ACT and DESI photometric galaxies. Cosmology and Nongalactic Astrophysics.