Unser Sonnensystem rast schneller durchs All als gedacht: Neueste Berechnungen widersprechen der Standardkosmologie

Ein Forschungsteam der Universität Bielefeld hat herausgefunden, dass sich unser Sonnensystem dreimal schneller bewegt als bisher angenommen – das Ergebnis stellt zentrale Annahmen der modernen Kosmologie infrage.

Unser Sonnensystem bewegt sich viel schneller durch das Universum als lange gedacht.
Unser Sonnensystem bewegt sich viel schneller durch das Universum als lange gedacht. Bild: NASA/JPL/ PIA12114

Wie schnell bewegt sich eigentlich unser Sonnensystem durch das Universum – und in welche Richtung? Eine Frage, die simpel klingt, berührt eines der Grundprinzipien der modernen Kosmologie. Astronomen haben nun herausgefunden, dass das Sonnensystem deutlich schneller unterwegs ist, als lange angenommen.

„Unsere Analyse zeigt, dass sich das Sonnensystem mehr als dreimal so schnell bewegt, wie es die aktuellen Modelle vorhersagen. Dieses Ergebnis widerspricht klar den Erwartungen aus der Standardkosmologie und zwingt uns, die bisherigen Annahmen zu überdenken.“

– Lukas Böhme, Astrophysiker, Universität Bielefeld, Erstautor

Das Team um den Astrophysiker Lukas Böhme von der Universit��t Bielefeld stellt mit den neuen Messungen zugleich das Wissen darüber infrage, wie das Universum überhaupt aufgebaut und beschaffen ist. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal Physical Review Letters veröffentlicht.

Wie die Geschwindigkeit gemessen wird

Um die Geschwindigkeit zu bestimmen, untersuchte das Forschungsteam die Verteilung von Radiogalaxien. Das sind extrem weit entfernte Galaxien, die intensive Radiowellen aussenden. Die Strahlung kann dichte Gas- und Staubschichten durchdringen, die sichtbares Licht blockieren.

Radioteleskope ermöglichen einen Blick auf Regionen des Himmels, die optischen Teleskopen verborgen bleiben.

Wenn sich das Sonnensystem durch das All bewegt, entsteht ein winziger Effekt, der an eine Art Fahrtwind erinnert: In Bewegungsrichtung erscheinen minimal mehr Radiogalaxien als in die entgegengesetzte Richtung. Die Abweichung ist extrem klein und lässt sich nur mit hochpräzisen Messungen nachweisen.

Ein europäisches Teleskopnetz

Für ihre Analyse nutzten die Forschenden Daten des LOFAR-Teleskops (Low Frequency Array), einem europaweiten Radioteleskopnetz. Ergänzt wurde das Material durch Daten zweier weiterer Großteleskope. Mit einer neu entwickelten statistischen Methode, die berücksichtigt, dass viele Radiogalaxien aus mehreren Komponenten bestehen, gelang es erstmals, den besagten Effekt besonders genau zu erfassen.

Der Bielefelder Wissenschaftler Lukas Böhme, Erstautor der Studie, vor dem Lovell-Teleskop im Jodrell-Bank-Radioobservatorium in England.
Der Bielefelder Wissenschaftler Lukas Böhme, Erstautor der Studie, vor dem Lovell-Teleskop im Jodrell-Bank-Radioobservatorium in England. Bild: Lukas Böhme

Das Team stellte fest, dass die beobachtete Ungleichmäßigkeit – der kosmische Dipol – 3,7-mal stärker ist, als es das Standardmodell des Universums erwarten lässt. Die gemessene Abweichung erreichte eine statistische Signifikanz von über fünf Sigma, was in der Physik als äußerst robustes Ergebnis gilt.

Das Standardmodell der Kosmologie geht davon aus, dass Materie und Strahlung im Universum im großen Maßstab gleichmäßig verteilt sind. Eine so starke Abweichung stellt diese Annahme infrage.

„Wenn sich unser Sonnensystem tatsächlich so schnell bewegt, müssen wir grundlegende Annahmen über die großräumige Struktur des Universums hinterfragen“, erklärt Professor Dominik J. Schwarz, Kosmologe an der Universität Bielefeld und Mitautor der Studie. Alternativ könne die Verteilung der Radiogalaxien selbst ungleichmäßiger sein, als bisher gedacht. „In beiden Fällen stehen unsere bisherigen Modelle auf dem Prüfstand.“

Kein Messfehler, sondern ein echtes Phänomen?

Die Ergebnisse passen zu früheren Beobachtungen, bei denen Quasare – die extrem hellen Zentren entfernter Galaxien – im Infrarotbereich untersucht wurden. Auch dort zeigte sich derselbe Effekt. Diese Übereinstimmung legt nahe, dass es sich nicht um einen Messfehler handelt, sondern um ein reales Merkmal des Kosmos.

Damit gewinnt die Debatte um die Geschwindigkeit und Bewegung unseres Sonnensystems neue Dynamik. Die Studie beweist, dass moderne Beobachtungstechniken das Bild des Universums allmählich verändern – und dass selbst scheinbar gesicherte Grundannahmen immer wieder neu überprüft werden müssen.

Noch ist nicht klar, ob die Ursache dafür in der Bewegung des Sonnensystems oder in einer bis dato unbekannten Asymmetrie des Universums zu suchen ist. Sicher ist jedoch, dass die neue Entdeckung Fragen darüber eröffnet, wie gleichmäßig das Universum wirklich ist.

Quellenhinweis:

Böhme, L., Schwarz, D. J., Tiwari, P., Pashapour-Ahmadabadi, M., Bahr-Kalus, B., Bilicki, M., Hale, C. L., Heneka, C. S. & Siewert, T. M. (2025): Overdispersed Radio Source Counts and Excess Radio Dipole Detection. Physical Review Letters.